Die toxische Arbeit mit dem (Money) Mindset

von yvonne 

Henry Ford hat nicht nur Autos bauen lassen, sondern auch jede Menge ziterfähige Sprüche verfasst. Einer der wohl bekanntesten lautet: »Whether you think you can, or you think you can’t–you’re right.« Ob du denkst, du kannst es oder du kannst es nicht – du hast Recht.1

Du musst nur an dich glauben

Ich habe dieses Zitat noch vor wenigen Monaten selbst gerne genutzt. Es zeigt so schön, wie wichtig es ist, an sich selbst zu glauben. Wenn ich von vorneherein an mir zweifle, bleibe ich abends einfach auf dem Sofa sitzen und gucke Netflix. Denn es hat ja eh keinen Sinn, sich anzustrengen. Und – schwupps – haben Henry Ford und ich beide Recht.

Gerade in meiner Onlinebusiness-Blase sehe ich jedoch immer wieder, dass die andere Hälfte des Zitats betont wird: Wenn du denkst, du kannst es, hast du Recht. Und das wird dann weitergestrickt zu: Du musst nur dran glauben, dann kannst du es auch. Und wenn du es bisher nicht kannst, dann fehlt dir der Glaube daran.

Und an dem Punkt fängt es an, toxisch zu werden.

Vielleicht hast du schon mal von Steve Avery gehört. Falls nein, schau dir unbedingt die Netflix-Serie Making a Murderer an. Sie wird dich ein paar Tage oder Wochen von vielen sinnvollen Dingen abhalten und dir sehr wahrscheinlich die Laune verderben, aber sie ist auch wirklich spannend und man lernt ziemlich viel über das Rechtssystem der USA.

Hier die Kurzfassung: Steve Avery sitzt in den USA im Gefängnis, und zwar schon zum zweiten Mal. Beim ersten Mal pochte er von Anfang an auf seine Unschuld – und hat diese nach 18 Jahren bewiesen. Zwei Jahre und einen Schadensersatzprozess später wanderte er wieder hinter Gitter. Für einen Mord, den er nach eigener Aussage nicht begangen hat. Die Netflix-Serie zeigt, welche Hebel Avery in Bewegung setzt, um seine Unschuld zu beweisen. Er bildet sich juristisch weiter, aktiviert Unterstützer*innen, hat immerhin sogar Netflix dazu bekommen, über ihn zu berichten. Richtig gut sieht’s nicht für ihn aus. Aber er bleibt dran, lässt nichts unversucht.

Er glaubt fest daran, dass er es schaffen kann, ein Gericht von seiner Unschuld zu überzeugen und wieder frei zu kommen. Würde er nicht daran glauben, hätte er wahrscheinlich keine Chance, sein früheres Leben wieder aufzunehmen – denn wer außer ihm selbst sollte sich so für ihn einsetzen?

Hat er deswegen Recht mit seinem Glauben, dass er es kann – wie Henry Ford sagt?

Das wird sich zeigen.

Sein positives Mindset hält ihn davon ab, alles einfach hinzuschmeißen. Das ist auf jeden Fall ein erster Schritt. Ob er erfolgreich ist oder nicht, wird aber von vielen anderen Faktoren und vor allem von anderen Menschen bestimmt. Steve Avery kann so sehr davon überzeugt sein, dass er wieder aus dem Gefängnis freikommt, wie er möchte – am Ende wird diese Überzeugung allein nicht reichen. Und man müsste schon wirklich boshaft oder sehr gleichgültig sein, um sein Mindset allein für den Ausgang verantwortlich zu machen.

Im Onlinebusiness passiert aber genau das: Irgendwie hat es sich in den letzten Jahren etabliert, diese Mindset-Geschichte als manipulative Verkaufstaktik einzusetzen. Oder als easy way out für Coaches, die Menschen nicht das beibringen können, was sie ihnen vollmundig versprochen haben. Und ihnen stattdessen einfach einreden, dass ihr Mindset allein dafür verantwortlich ist, wie erfolgreich sie in ihrem Leben und vor allem ihrem Business sind. Vor allem natürlich ihr Money Mindset – denn wie viel Geld jemand hat und verdient, liegt nicht etwa an seinem Elternhaus, seiner Ausbildung, seinen Privilegien und seinem Ehrgeiz, sondern einzig und allein daran, wie die Einstellung dieser Person zu Geld ist. Ein paar reale Beispiele, die ich in den letzten Monaten gehört, gelesen und gesehen habe.

Toxische Mindset-Botschaften aus dem Onlinebusiness

»Wenn du viel Geld verdienen willst, musst du jetzt etwas Besonderes für dich kaufen, um deinem Gehirn zu zeigen, dass da mehr ist, wo das herkommt.«

Als ob.

Kaufen ist eine Erfindung von Menschen. Geld verdienen auch. Wenn wir nicht in einer auf Handel basierenden Gesellschaft aufgewachsen wären, käme unser Gehirn auch sehr gut aus, ohne dass wir etwas kaufen. Und nur, weil wir unserem Gehirn zeigen, dass wir Geld ausgeben können, weiß es noch lange nicht, wie wir welches verdienen. Davon abgesehen funktioniert unser Gehirn so gar nicht. Dem Gehirn ist es nämlich egal, ob wir etwas real erleben oder nicht. (Hier ein spannender Artikel dazu: https://www.spektrum.de/news/film-buch-oder-wirklichkeit-dem-gehirn-ist-es-egal/964683) Selbst wenn wir durch den Kauf (zum Beispiel des nächsten teuren Kurses) unser Gehirn irgendwie darauf programmieren könnten, uns »zum Schotter zu führen«, würde es auch reichen, sich das Ganze möglichst lebhaft vorzustellen.

»Du musst Geld fließen lassen, dann fließt es auch zu dir zurück.«

Hmm, klingt super logisch, schließlich ist Geld ja nichts, was man anhäufen und behalten kann, es ist quasi immer im Fluss. Hast du eine Idee, wohin ich es fließen lassen könnte? Kannst du mir damit vielleicht helfen? Ach, zu dir?

Klar, im BWL-Studium habe ich auch gelernt, dass unsere Wirtschaft ein Kreislauf ist. Aber zu glauben, dass ich Geld fließen lassen muss, um welches zu bekommen, ist vergleichbar mit der Vorstellung, dass ich die Toilettenspülung regelmäßig betätigen muss, damit der Wasserhahn zuverlässig funktioniert. So einfach sind die Kreisläufe dann eben doch nicht. (Zumal Geld – anders als Wasser – gedruckt wird.)

»Wenn es bei dir nicht so läuft, wie du es gerne hättest, liegt das an deinem Mangeldenken.«

Immer, wenn jemand das sagt, ärgere ich mich insgeheim, dass ich dieses Argument nicht schon ein paar Jahre früher kannte. Einfach, um es in meiner Geschäftsführerinnen-Zeit den Gesellschaftern vorzutragen. »Schaut nicht immer auf die Kosten – euer Mangeldenken kostet uns noch Umsätze!!!« Nicht, dass das Money Mindset dort untoxisch gewesen wäre – aber da wären sicher Welten aufeinander geprallt.

Das Perfide an einem solchen »Impuls«: Er lässt sich nicht widerlegen. Und er lässt auch nicht zu, sich Probleme ernsthaft anzuschauen. Denn das ist ja MANGEL!!!! Du bekommst in einem Programm nicht das Wissen, das du brauchst, um deine Ziele zu erreichen? Mangel. Du denkst, dass du erst mal Basis-Arbeit leisten musst, bevor du große Investitionen tätigst? Mit diesem Mangeldenken wirst du immer auf der Stelle treten, ist doch klar.

Das Ding ist nur: Um Probleme lösen zu können, muss man sie anschauen. Muss anerkennen, dass man vielleicht ein Problem mit den Kosten, mit der Technik, mit Fachwissen hat. Um das dann zu ändern. Feste dran glauben reicht da einfach nicht.

(Mensch, Thomas Edison, jetzt jammer nicht ständig rum, dass es dir hier zu dunkel ist, du alter Mangeldenker. Stell’s dir einfach hell vor, dann wird das schon!)

»Du löst 100.000-Euro-Probleme mit deinem Programm, dann kannst du doch wohl auch 10.000 oder 20.000 Euro dafür nehmen!«

Oha. Was ist ein 100.000-Euro-Problem?

Wahrscheinlich eins, das gerade sehr dringend für mich ist. Beispiele, die da genannt wurden: Wenn endlich der Traumpartner gefunden wird, die Beziehung gekittet, ein großer Schritt im Business getan – alles 100.000-Euro-Probleme. Kann man 10.000 Euro für nehmen. Da haben die Kund*innen ja im Grunde noch 90.000 Euro gespart – ein echtes Schnäppchen. Und mir fallen noch mehr solche Probleme ein: Eine Pizza, wenn man so richtig hangry ist? Für mich und alle, die in der Situation mit mir zu tun haben, locker eine Million wert. Wenn ich mir so einen Money-Mindset-Quatsch anhören muss und jemand schiebt mir ein Glas Primitivo rüber, löst der für mich auf jeden Fall ein 100.000-Euro-Problem.

»Du musst in dich selbst investieren, um weiterzukommen.«

Ja, Fortbildung ist wichtig. Je besser wir verstehen, was wir tun und wie alles miteinander zusammenhängt, desto sinnvoller können wir uns und unser Onlinebusiness weiterentwickeln.

In unserer individualisierten Welt hört es sich natürlich super an, in sich selbst zu »investieren«. Das Wort suggeriert aber, dass ich einfach Geld in einen Kurs oder ein Programm stecken muss und es dann easy-peasy vervielfache. Ich sehe Fortbildung anders: Ich hole mir damit das Wissen, um bessere Entscheidungen zu treffen, um es mir einfacher zu machen und um Zusammenhänge zu verstehen. Es ist keine Investition in mich selbst, sondern ein bewusstes Auswählen von Möglichkeiten, die mich weiterbringen.

Was mich an der Formulierung vor allem stört, ist das empfundene Größenverhältnis: Wenn ich in etwas investieren muss, damit es erfolgreich wird, löst das Gedanken von noch klein, nicht gut genug, da fehlt was aus. (Hey, das ist doch Mangel!) Als Unternehmerin sehe ich mich lieber als jemanden, der verantwortlich handelt und auswählt, Wissen hinzunimmt und auf anderes verzichtet. Ich muss nicht irgendetwas Fremdes in mich hineinkippen, um zu wachsen.

»Gerade, dass du das sagst, zeigt, dass dein Mindset nicht stimmt.«

Dass jemand keine wirklichen Argumente hat, erkennst du daran, dass er keine Diskussion zulässt. Den Ball zurückspielt. Jeden deiner Einwände als Beweis dafür nimmt, dass du’s einfach nicht verstanden hast. Und so ist es natürlich klar, dass das wichtigste, das letzte Argument immer lautet: Du lehnst das Thema ab, gerade weil du es brauchst. Ein rhetorischer Zirkelschluss, der alles, was man darauf antworten könnte, gleich mit verdreht.

Schadet nichts?

Früher dachte ich, Mindset-Arbeit kann nicht schaden. Damit lag ich falsch. Mindset-Arbeit kann nützlich sein, motivieren, beflügeln, einem einen Schub verschaffen. Wenn sie aber dazu genutzt wird, Verantwortlichkeiten zu verschieben, kann sie sehr wohl schaden.

Denn: Die Aussagen oben, von denen ich mir keine einzige ausgedacht habe, blenden die Lebenswirklichkeit vieler Menschen aus. Sie ignorieren Privilegien oder das Fehlen derselben. Sie sagen Menschen mit echten Problemen, dass diese Probleme nicht existieren. Stattdessen wird diesen Menschen ein psychischer Defekt eingeredet – ihr (Money) Mindset sei kaputt.

Menschen starten mit unterschiedlichen Voraussetzungen in ihr Leben. Und unsere Gesellschaft verstärkt diese Unterschiede, statt sie auszugleichen. Das auszublenden und auf falsches Mindset zu schieben, ist, als würde man Steve Avery sagen, dass er sich die Gefängnismauern nur einbildet.

Für dieses Verhalten gibt’s einen Namen: Gaslighting. Wenn ich die Wahrnehmung von Menschen in Frage stelle und sage, sie bilden sich ihre Realität nur ein. Das ist kein Spaß, sondern toxisches Verhalten und psychische Gewalt. Und außerdem manipulativ, wenn der passende Money-Mindset-Kurs nur einen Klick und einen vierstelligen Betrag entfernt sind. Die Folgen für Menschen, die solchen Botschaften glauben, können fatal sein: Zum einen natürlich finanziell. Zum anderen aber auch psychisch, denn die ständigen Selbstzweifel, die mit jedem nicht eingelösten Versprechen größer werden, können zu schweren psychischen Krankheiten führen. Immer alles aufs Mindset zu schieben, ist nicht mehr als ein Achselzucken und ein »Selbst schuld!« Und das von Menschen, deren Verantwortung es wäre, Probleme zu beheben und echte Unterstützung zu bieten. Eine wirkliche Chance, zu lernen, wie es besser geht, kann es aber nicht geben, solange die wahren Probleme geleugnet werden.

Ich freu mich jeden Tag über meinen Beruf und darüber, dass ich ihn dank der technischen Entwicklung in meinem eigenen Büro, in meinem Tempo, unter meinen Bedingungen ausüben kann. Für diese toxischen Anteile meiner Branche schäme ich mich allerdings. Denn sie nutzen Verletzlichkeiten, Sehnsüchte, Schwachstellen unseres Gesellschaftssystems aus, um sich selbst zu bereichern. Und schaden dabei anderen Menschen sowohl finanziell als auch mental.

Also: Dein (Money) Mindset ist sehr wahrscheinlich okay. Wenn du Mindset-Arbeit machen willst, arbeite vor allem an den Dingen, die dich wirklich stören und dich davon abhalten, dir selbst zu vertrauen. Und an denen, die dir helfen, dir nichts einreden zu lassen, sondern deinen eigenen Weg zu finden und ihn zu gehen.

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