Dies ist mein letzter Artikel aus der Reihe zum Thema Figurenentwicklung. Nachdem die anderen fünf Artikel viel „Handwerkliches“ zum Thema Figuren enthielten, widme ich mich hier einer besonderen Betrachtungsweise der Literatur, die mir persönlich sehr zusagt. Archetypen als Teil der analytischen Psychologie sind in sehr vielen Figurenkonstellationen zu finden. Das Wissen über sie kann dir helfen, deine Texte noch besser zu strukturieren und in sich stimmig zu gestalten.
Was sind Archetypen?
Literatur (und Filme) lassen sich hervorragend psychoanalytisch interpretieren. Sigmund Freud selbst hat dies für die Literaturwissenschaft festgestellt. Der Grund hierfür liegt in der Entstehung von Literatur. Ähnlich wie Träume haben sie eine Oberfläche, die deutlich erkennbar ist, und unter dieser Oberfläche Tiefen, die weder Autor noch Leser bewusst wahrnehmen. Diese Tiefen lassen sich jedoch psychoanalytisch ergründen. Hierzu ist Wissen über Symbole und über im kollektiven Unbewussten verankerte Gemeinsamkeiten erforderlich.
Aus der psychoanalytischen Literaturwissenschaft hat sich die archetypische entwickelt, die sich vor allem auf die Rollen der einzelnen Figuren bezieht. Diese lassen sich in – je nach Interpretationsrichtung unterschiedlich viele – Archetypen unterscheiden, die in griechischen Mythen ebenso zu Hause sind wie in modernen Romanen. Dass die Archetypen funktionieren, liegt laut Psychoanalyse daran, dass ihre Unterscheidung im Menschen von Natur aus angelegt oder aber als Kind erlernt ist.
[perfectpullquote align=“full“ bordertop=“false“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Dass die Archetypen funktionieren, liegt laut Psychoanalyse daran, dass ihre Unterscheidung im Menschen von Natur aus angelegt oder aber als Kind erlernt ist.[/perfectpullquote]
Welche Archetypen gibt es?
Je nach Autor gibt es unterschiedlich viele Archetypen. Frazer hat sich vor allem mit den Archetypen der Mythologie beschäftigt, Jung mit den im kollektiven Unbewussten angelegten und Frye hat Jungs Theorien weiterentwickelt. Als „Erbe“ Freuds ist Jung derjenige, dessen Interpretationen am engsten mit der Psychoanalyse verbunden sind, sodass ich mich in diesem Artikel auf seine Ausführungen zu Archetypen beschränken werde. Archetypen sind nach Jung nicht durch individuelle Erfahrung entstanden, sondern im kollektiven Unbewussten angelegt. Sie sind also nicht in Mythen und anderen Texten erlernt, sondern umgekehrt drücken sich dort die gemeinsamen Urbilder aller Menschen aus.
Jung unterscheidet viele verschiedene Archetypen, von denen er zwölf besonders intensiv untersucht hat. Ich werde mich hier auf die fünf wichtigsten beschränken. Wenn du Teil 1 meiner Reihe zur Figurenentwicklung gelesen hast, wird dir die Ähnlichkeit zur Standard-Besetzung eines Romans auffallen.
Das Selbst
Das Selbst (in psychoanalytischem Verständnis) ist der Vermittler zwischen Es (Unbewusstem), Über-Ich und der sozialen Umwelt, in der man lebt. Das Selbst entwickelt sich während des gesamten Lebens und ist selbstreflektiert. Es ist derjenige, der (oberflächlich gesehen) „am Steuer sitzt“.
In deiner Geschichte ist das Selbst natürlich gleichzusetzen mit dem Protagonisten. Dieser treibt die Geschichte voran oder wird auch mal getrieben. Er vermittelt zwischen den einzelnen Figuren, entwickelt sich innerhalb der Geschichte und ist die Figur, in die deine Leser den meisten Einblick haben – den sie also fast genau so gut kennen wie sich selbst. Genau wie das psychoanalytische Selbst ist dein Held ebenfalls oft nicht Herr der Lage, sondern wird fremdbestimmt und muss darauf reagieren. Wenn du das Selbst bewusst integrieren möchtest, gib deinem Helden Tiefen, die er selbst nicht kennt, und lasse ihn in deinem Roman etwas über sich selbst herausfinden.
[perfectpullquote align=“full“ bordertop=“false“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]In deiner Geschichte ist das Selbst natürlich gleichzusetzen mit dem Protagonisten. Dieser treibt die Geschichte voran oder wird auch mal getrieben.[/perfectpullquote]
Anima
Anima und Animus hängen eng zusammen. Die Anima ist das Urbild einer Frau, das ein jeder Mann in sich trägt. Sie ist die Vorstellung des weiblichen Partners und natürlich eine idealisierte Variante der Frau.
In deinem Roman kann die Anima als Liebespartnerin deiner Hauptfigur auftreten. Die ganz große Liebe findet dein Held in der Verwirklichung seiner idealisierten Vorstellung einer Frau. Wenn du die Anima bewusst einsetzen möchtest, kannst du der Frau, in die sich dein Held verliebt, Eigenschaften geben, die er sich vorher vorgestellt oder erträumt hat.
Animus
Der Animus ist das Gegenteil der Anima. Er verkörpert männliche Idealvorstellungen, die jede Frau in sich trägt. Der Animus kommt also vor allem dann zum Einsatz, wenn sich deine weibliche Hauptfigur in einen Mann verlieben soll. Du kannst den Animus genau so einsetzen wie die Anima – setze deiner Hauptfigur ihren Traummann in den Weg, der genau die Eigenschaften hat, die sie sich vom idealen Mann erhofft.
Da Jung seine Archetypen nicht auf die Literatur, sondern auf die Psychoanalyse eines einzelnen Menschen ausgelegt hat, sah er in allen Menschen sowohl Anima als auch Animus angelegt. Und natürlich kannst auch du deiner Heldin eine Anima oder deinem Helden einen Animus auf den Weg geben.
[perfectpullquote align=“full“ bordertop=“false“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Da Jung seine Archetypen nicht auf die Literatur, sondern auf die Psychoanalyse eines einzelnen Menschen ausgelegt hat, sah er in allen Menschen sowohl Anima als auch Animus angelegt.[/perfectpullquote]
Schatten
In der Psychoanalyse umfasst der Schatten unbewusste und/oder verdrängte Persönlichkeitsmerkmale des Selbst. Der Schatten beinhaltet all die Dinge, für die das Selbst sich schämt und die es nicht einmal vor sich selbst eingestehen möchte.
In einer Geschichte kann der Schatten entweder Teil der Hauptfigur sein – ihre dunkle Seite sozusagen – oder er kann in einem Gegenspieler personifiziert werden. Beide Varianten kommen relativ häufig in Geschichten vor. Gerade in Fantasy-Erzählungen gibt es Hauptfiguren, die von einem Schatten besessen sind und gegen ihn kämpfen – das berühmteste Beispiel ist Dr. Jeckyll. Genau so gut kann aber auch der Antagonist die Rolle des Schattens einnehmen. Wenn du dies für deine Geschichte übernehmen möchtest, solltest du darauf achten, dass Selbst und Schatten miteinander verbunden sind, dass sie entweder eine gemeinsame Vergangenheit oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Ziele teilen – denn eigentlich ist der Schatten ja ein Teil des Selbst.
Hier findest du mehr Informationen darüber, wie du einen überzeugenden Antagonisten entwirfst.
Weiser
Ein weiterer Archetyp ist der Alte Weise, der dem Selbst dem Weg zeigt und es in seiner Entwicklung unterstützt. Der Weise ist in vielen Geschichten zu finden, oft in der Rolle des Mentors. Auch hier gilt wieder: Willst du den Archetypen des Weisen einsetzen, gib ihm eine innere oder äußere Verbindung zu deiner Hauptfigur. Oft hat der Weise genau das Gleiche erlebt wie dein Protagonist, nur eben einige Jahre früher, sodass er seine Erfahrungen teilen kann.
Hier findest du Tipps, wie du Nebenfiguren entwirfst, die deine Leser nicht mehr vergessen.
Weitere Archetypen
Der Vollständigkeit halber führe ich hier noch die anderen wichtigen Archetypen nach Jung auf, die natürlich auch Eingang in deine Geschichten finden können. Die wichtigsten sind: das Kind, das Mädchen, die Mutter, der Trickser, der Wotan, die Dreifaltigkeit sowie der Baum.