Podcast-Episode 002: Fear of Missing Out

von yvonne 

Hast du auch schon einmal etwas zugesagt, einfach, weil du dabei sein wolltest? Weil es nur die eine Konzertvorstellung gab oder du dir dachtest, DIESE Party wird etwas ganz Besonderes? Hast du manchmal Sorge, dass du vielleicht gerade nicht da bist, wo die wichtigen, tollen, wundervollen Dinge geschehen? Wo "die Action ist"?

Für dieses Gefühl gibt es einen Begriff, und dieser Begriff heißt Fear of Missing Out, abgekürzt FoMO. In dieser Episode widme ich mich diesem Gefühl. 

"Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist - was geschieht mit dem Rest?"

Dieser Satz stammt aus dem Roman “Nachtzug nach Lissabon”. Der Roman ist 2004 erschienen und wurde zum Weltbestseller, in über 30 Sprachen übersetzt und später auch erfolgreich verfilmt.

In dem Buch hat ein Lehrer, Mitte 50, eine unerwartete Begegnung mit einer Portugiesin. Und diese Begegnung führt ihn durch mehrere Zufälle dann selbst nach Portugal, wo er den Autor eines Buchs sucht, aber eigentlich natürlich sich selbst.

Und über diesem ganzen Buch steht der Gedanke: Wir leben ein Leben und ganz viele andere Leben, die genauso gut möglich gewesen wären, die leben wir nicht. 

Die Hirnforschung geht heute davon aus, dass jeder Mensch pro Tag etwa 20.000 Entscheidungen trifft. Die meisten kommen uns ganz klein vor. Zum Beispiel entscheide ich mich, einen Schluck Wasser zu trinken, und denke gar nicht groß darüber nach. Mit anderen Entscheidungen tun wir uns schwerer. Dabei muss das nicht unbedingt etwas über die Größe der Konsequenzen für uns aussagen.

Mit jeder Entscheidung - egal ob für uns groß oder klein - legen wir einen bestimmten Pfad für unser Leben fest - und verlassen dadurch einen anderen. Oder sogar mehrere andere, wenn es mehr als zwei Optionen zur Wahl gibt. Es gibt also zahllose ungelebte Leben von uns allen. Gegen die wir uns irgendwann entschieden haben. Die wir uns aber immer noch vorstellen können. Und das tun wir manchmal auch, wenn wir über getroffene Entscheidungen, unsere Vergangenheit, unser Leben nachdenken.

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Wenn wir gerade im Moment eine Entscheidung über die Zukunft treffen, sind ja alle möglichen Pfaden noch ungelebte Leben. Wir haben zwar durch Entscheidungen in der Vergangenheit und durch externe Umstände nur eine begrenzte Auswahl, aber immer mehrere Möglichkeiten, wie etwas werden könnte. Wir haben zum Beispiel die Wahl, ein Buch zu lesen oder mit Bekannten ins Café zu gehen. Und in dem Moment, in dem wir die Entscheidung treffen, wissen wir, dass eine Option unser gelebtes Leben wird, also Wirklichkeit wird, und die andere Option wird zum ungelebten Leben. Unwiederbringlich. Wenn ich mich heute Abend dafür entscheide, nicht ins Café zu gehen, kann ich zwar ein anderes Mal gehen, aber diesen einen Abend mit all dem, was an ihm geschieht, kann ich nicht zurückholen. 

Den habe ich dann verpasst.

Und hier kommt jetzt die Fear of Missing Out ins Spiel. “Fear of Missing Out” heißt übersetzt nichts anderes als “die Angst, etwas zu verpassen”. Und ich gebe zu, die habe ich ziemlich oft. 

Dieser Begriff wurde von einem Studenten geprägt, von Patrick J. McGinnis. Der hat in einem Artikel der Uni-Zeitschrift darüber geschrieben. Und zwar im Jahr 2004, also demselben Jahr, in dem Pascal Mercier Nachtzug nach Lissabon veröffentlicht hat.

Diese Angst, etwas zu verpassen, ist natürlich schon viel älter. Sie hat etwas damit zu tun, dass wir als Menschen soziale Wesen sind. Wir wollen Teil von etwas sein, von einer Gruppe, von einer Bewegung, einer Generation, von etwas, das größer ist als wir. Wir wünschen uns Zugehörigkeit und dadurch das Gefühl, zu wissen, wer wir sind und wo wir hingehören. 

Dass das Konzept des ungelebten Lebens und der Fear of Missing Out gerade Anfang des Jahrhunderts so populär geworden sind, ist aber trotzdem kein Zufall. Denn 2004 passierte noch etwas: Facebook wurde gegründet. Jetzt hatten du, ich, Pascal Mercier und wahrscheinlich auch Patrick J. McGinnis 2004 noch keinen Facebook-Account. Trotzdem hat sich durch die Digitalisierung, durch mehr Verfügbarkeit, größere Kontaktmöglichkeiten natürlich auch die Wahrnehmung für das verändert, was wir alles verpassen könnten. Die Möglichkeiten waren vielleicht schon immer da. Aber die Digitalisierung und die sozialen Medien machen sie uns erst so richtig bewusst. Wir sehen immer und überall die gelebten Leben der anderen. Oder zumindest ihre gezeigten Leben. Und das macht uns schmerzlich bewusst, welche Leben wir gerade nicht leben.

2010 wurde Instagram gegründet. Die Plattform, die wohl am stärksten prägt, wie wir die Leben anderer im Vergleich zu unserem eigenen sehen. Im letzten Jahr wurde sogar eine Studie veröffentlicht, die Instagram-Nutzung und Fear of Missing Out in einen Zusammenhang setzt. Wen’s interessiert, ich verlinke die Studie in den Shownotes. (Und hier: https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0033294120936184?journalCode=prxa)

Im selben Jahr erschien aber auch ein weiteres Buch. Eins vom Psychoanalytiker Adam Phillips. Es ist leider bisher nicht auf Deutsch erschienen. Es heißt: Missing Out: In Praise of the Unlived Life, und es bringt eine andere Perspektive in diese Gleichung, eine, die ein bisschen optimistischer ist. Und die besagt: Es gehört dazu, dass wir nur ein Leben führen können. Und es ist gut, dass wir Dinge verpassen, denn das macht die anderen Dinge, die wir eben nicht verpassen, umso wertvoller. 

Ich habe noch ein Zitat für dich, aus einem Gedicht von Philip Larkin, und die Zeile ist fast so alt wie ich, die stammt nämlich von 1977. Sie lautet: 

“Most things may never happen: this one will.”

oder auf Deutsch: 

“Manche Dinge werden vielleicht nie passieren: aber dieses eine wird [Wirklichkeit].”

Das Gedicht ist eigentlich ziemlich melancholisch und düster und ich reiße diese Zeile jetzt bewusst aus dem Zusammenhang. Aber wenn man sie für sich nimmt, heißt sie nämlich genau das: wenn ich mich gegen eins der vielen ungelebten Leben entscheide, wenn ich zulasse, dass ich etwas verpasse, dann entscheide ich mich gleichzeitig für etwas anderes. Und erlebe etwas anderes. Was auch immer das in dem Moment ist. Und ich finde diesen Blick, diese andere Perspektive ganz schön. Denn wenn ich sage: Ich entscheide mich für etwas und lasse das andere los, dann laufe ich nicht verpassten Möglichkeiten hinterher, sondern kann mein Leben auch ganz anders und bewusster spüren.

Ich will die Gedichtzeile aber nicht einfach so aus dem Zusammenhang reißen, sondern auch erklären, worum es dort eigentlich geht. Denn auch das hat mit ungelebten Leben und Fear of Missing Out zu tun. Das Gedicht heißt Aubade bzw. auf Deutsch Frühmorgengedicht und es handelt von der Vergänglichkeit unseres Lebens. Und in Wahrheit ist ja die Tatsache, dass wir nicht endlos leben, der Grund dafür, dass wir Angst haben, etwas zu verpassen. Vielleicht sogar ein anderes, besseres Leben.

Umso wertvoller ist es dann, sich für etwas zu entscheiden. Und ich finde, dieser Gedanke gibt einem ein Gefühl von Kontrolle und Bewusstheit zurück und kann dafür sorgen, dass wir uns nicht klein und hilflos vor all den Optionen fühlen. Klar, wir müssen uns für etwas entscheiden. Und damit gegen ganz viele andere Sachen. Aber wir dürfen es auch.

Oder um es mit einem Zitat aus “Nachtzug nach Lissabon” zu formulieren:

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“Wenn immer und überall Zeit für alles und jedes ist: Wo sollte da noch Raum sein für die Freude an Zeitverschwendung?”

Und manchmal muss man sich auch gar nicht entscheiden. Kann das Buch ganz einfach im Café lesen, die Bekannten zu sich nach Hause einladen oder einen Podcast beim Spaziergang am Rhein hören.



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